Die Jahrhundertnacht in den Bergen

 

Die Nacht vom 27sten auf den 28sten Juli 2018 soll eine Jahrhundertnacht werden. Es ist die Konstellation von Sonne, Erde und Mond zueinander, die eine außergewöhnlich lange Mondfinsternis erzeugt, die es in diesem Jahrhundert so noch nicht gegeben hat und erst wieder im Jahr 2123 geben wird, also im nächsten Jahrhundert. Die Medien überschlagen sich hierzu mit Detailwissen und Superlativen.

 

Ich lasse mich vom Mondfieber anstecken und beschließe, mir diese Jahrhundertnacht nicht entgehen zu lassen. Umsonst und draußen. Und wenn schon, dann richtig verrückt.

 

Diese Nacht wird nicht nur aus astronomischer Sicht die angekündigte Jahrhundertnacht, sondern es wird auch die meine. Also ohne viele Worte zu machen – schlicht einmalig. Aber das ist jetzt doch zu platt. Ich möchte so gerne das Unbeschreibliche beschreibbar machen, den Blutmond in Worte kleiden, das Unfassbare in Worte fassen. Unser Mond lässt sich in den Schatten stellen und stellt damit alles andere in den Schatten.

 

Das bevorstehende astronomische Himmelschauspiel ruft nicht nur Astronomen, Fotografen und Mondsüchtige auf den Plan, es berührt sogar ganze Nationen auf unserer Erde. Von vielen Standorten aus schauen Menschen auf den Mond, die sich von dem Ereignis begeistern lassen.

 

Der Protagonist ist der Mond, der heute Nacht zum Blutmond wird und das über 104 Minuten lang. So lange dauert es, bis er wieder aus dem Kernschatten der Erde austritt. Der Erdtrabant sollte dann eigentlich ganz dunkel sein. Ist er aber nicht: Weil durch die Erdatmosphäre ein Teil des Sonnenlichts in den Schattenkegel hineingelenkt wird, erhält der Mond immer noch etwas Licht. Seine rötliche Farbe erhält er vor allem durch die langwelligen roten Anteile, die durch die Erdatmosphäre gebrochen werden.

 

Die Kulisse bildet die Oberstdorfer Bergwelt. Eine kleine Kuppe auf einer Höhe von 2204 Metern, übersät mit Bergblumen und duftenden Gräsern, bietet den 360-Grad-Panoramablick. Nur Richtung Süd-Ost ist der Blick zum Horizont verstellt durch die Felszacken der Krottenspitzen. Ist das jetzt der Jahrhundertflop, weil die Felsen die Sicht versperren?

 

Zur Einstimmung gibt es ein Vorspiel vom Antagonisten, das ist in diesem Fall die Sonne. Noch nicht ganz roter Feuerball, erreicht sie das Wolkenband über dem nordwestlichen Horizont und nachdem sie darin verschwindet, haucht sie die Wolken ringsum kurz in rosafarbene Wattebausche. Das kurze Abendrot erlebe ich vollkommen außer Puste, nachdem wir uns ab Mittag mit dem Auto durch Staufahrt nach Oberstdorf ‚ge-stop-and-go-ed’ haben, den Bus nach Spielmannsau verpasst haben, mit extra Taxi gefahren wurden, bei der Affenhitze 1200 Höhenmeter hochgeschwitzt haben, denn die 21.03 Uhr-Deadline für Sonnenuntergang und dem Beginn des Spektakels ist unverrückbar. Geschafft und geschafft. Gerade verschwindet die Sonne.

 

Spätestens jetzt bestätigt sich mein Verdacht, dass der Mond genau dort stehen muss, wo die Felsen vor uns aufragen. Bei einer totalen Mondfinsternis steht die Erde auf einer geraden Linie zwischen Sonne und Mond. Der Vollmond taucht also in den Schatten ein, den die von der Sonne angestrahlte Erde ins Weltall wirft. Wenn ich also der Sonne den Rücken kehre, müsste da der Mond sein, wäre nicht der Berg davor. Das darf jetzt nicht wahr sein. Ist es aber. 21.03 Uhr. Sonne weg. Kein Mond. Stattdessen haben Wolken einige Gipfel besetzt.

 

Bevor die Erkenntnis über das Berghindernis so richtig durchsickert, steht die Wolke daneben für einen Bruchteil einer Sekunde in gleißendem Flammenlicht. Jetzt zuckt es auf der anderen Seite, ohne dass Donnergrollen zu hören wäre. Dieses Wetterleuchten ist unheimlich. Und wir dem Himmel so nah, wie man es bei so einer spannungs-geladenen Luft nicht sein will. Bevor sich erste Zweifel über unsere verrückte Idee breit machen können, verändert sich gerade etwas.

 

Hinter unserer Scherenschnittfelskulisse im blauen Nachthimmel schiebt sich fast unmerklich die Mondscheibe nach oben. Die schwach rötlich schimmernde Scheibe gewinnt immer mehr an Fläche, bis sie vollkommen sichtbar wird und sich bereits schon wieder, in ihrem Streben nach oben, von der Felskante löst. Der Mond schimmert gelb-orange-rot. Er reflektiert die gebrochenen Lichtwellen der Erdatmosphäre und hat wegen dieses  Phänomens den Namen Blutmond. Er ist doch da. Und erzeugt Gänsehautschauer.  Immer noch stehen die Wolken über den Gipfeln und umrahmen jetzt den Mond mit ihren zuckenden Entladungen, willkürlich, mal hier, mal da. Mit der Zeit weniger, weil auch die Wolken weniger werden und sich weiter auflösen.

 

Jetzt hat sich das Firmament in seiner vollen Pracht entfaltet. Das unendliche Lichtermeer, zweigeteilt durch das diffuse Band der Milchstraße. Unzählige Sternschnuppen sausen auf uns nieder, ich komme mit dem Wünschen nicht nach. Mein dringlichster Wunsch ist in Erfüllung gegangen, nämlich kein Gewitter hier oben! Und jetzt taucht an der Felskante ein kleines Licht auf. Wer ist da noch unterwegs? Als sich auch diese Lichtquelle nach oben löst, ist klar, das ist der angekündigte Mars. Er ist unserer Erde heute so nah wie selten und deshalb auch besonders hell und groß zu sehen.

 

Ab 23.14 Uhr verlässt der Mond allmählich den Kernschatten, um 0.19 Uhr lässt er ihn hinter sich. Er hat seine Röte verloren. Je mehr er sein Schattendasein abwirft, desto mehr Kraft entfaltet das edelweißschimmernde fahle Mondlicht, wie wir es kennen. Je mehr er  den Himmel kraftvoll überstrahlt, desto mehr verblassen die Sterne ringsum, bis er um 1.30 Uhr wieder voll da ist.

 

Ich sauge jeden Moment der Jahrhundertnacht in mir auf in der Gewissheit, an einem ganz besonderen Kraftort, an einer unbeschreiblichen Szenerie teilgehabt zu haben. Die prickelnden Schauer lassen nach, verblassen wie die Nacht. Die Morgenröte kündigt den nächsten Tag an. Die Jahrhundertnacht wird gerade Vergangenheit in der Unendlichkeit.
 

Quellennachweis
Die kursivgedruckten Informationen sind Zitate aus der Marbacher Zeitung vom Donnerstag, 26. Juli 2018, Seite 40, Wissenswert, Artikel „Der längste Blutmond des Jahrhunderts“

© Barbara Esser im Juli 2018

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