Bergweh ® - Britanniahütte

Bergweh ® - Von der Faszinatzion der Alpen - Leseprobe
In dem Buch gibt es neben dem Erlebnisbericht immer wieder Einblicke in interessante Bergthemen.
Diese Wanderung bringt uns auf Tuchfühlung mit der Hochgebirgswelt. Für diesen Weg ist keine alpine Ausrüstung nötig, er erfordert aber Trittsicherheit und stabiles Schuhwerk.

Brittaniahütte (Saastal/Schweiz)

Die Britanniahütte auf einer Höhe von 3.030 Metern ist eine der meistbesuchten Hütten des Schweizer Alpen Clubs (SAC). Es war im Vorfeld unseres Urlaubs lange nicht möglich, für diese Hütte ein Quartier zu bekommen. Das war auch ein Grund, warum die Hohsaashütte als Alternative immer wieder im Gespräch war. Erst ein paar Tage vor Reisebeginn hat Wolfgang erneut versucht, zu reservieren und hatte plötzlich Glück.


Wir lassen das sommerliche Saas-Fee mit Glockengeläut - es wird gerade zehn Uhr eingeläutet - unter uns zurück. Für mich ist es keine Frage, den gesperrten Weg zu meiden, zumindest solange, bis wir fundierte Informationen dazu bekommen. Also nehmen wir den empfohlenen Weg von der Gondelstation Plattjen aus. Das hat den Vorteil, dass wir die Trinkflasche, die gestern oben auf der Aussichtsterrasse stehengeblieben ist, wieder einsammeln können. Wie nett, dass der Wirt sie bereits ausgespült hat und jetzt sein Trinkwasser dafür spendiert. Auf seiner Aussichtsplattform steht eine überdimensionierte Kugelbahn, die nicht nur die Kinder fasziniert. Die Holzkugeln sind so groß wie Tennisbälle und rollen über ausgehöhlte Baumstämme direkt in den Schlund des eigens dafür geschnitzten Krokodilrachens. Wir haben heute alle Zeit der Welt und lassen sie gleich schon damit verstreichen, hier herum zu kugeln.

Auch im Aufstieg schieben wir sozusagen eine ruhige Kugel. Die heutige Alpenidylle mit den sonnigen Ausblicken bietet viel Gelegenheit, sich ablenken zu lassen. Zum Beispiel gibt es nicht weit von hier eine von Edelweiß übersäte Wiese ... (Anmerkung: Die wird im vorigen Kapitel ausführlich beschrieben)

Die Hütte ragt bereits zum Greifen nah in den blauen Himmel. Gerade sind wir über die Randspalte auf das Eis gesprungen und suchen uns halbwegs feste Tritte auf dem Gletscher. Überall gurgelt das zu Wasser getaute Eis um uns herum, es haben sich wahre Bachläufe eingeschmolzen, die bergabwärts strömen. Nicht nur der Gletscher schwitzt in der intensiven Höhenluft.

Zunächst habe ich keinen Sinn für die Hütte. Mit dem Erreichen der Scharte breitet sich eine überwältigende Kulisse vor uns aus. Sie lässt uns innehalten, damit das Auge die gesamte Breite des Panoramas erfassen kann. Die Eisströme, die Firngipfel, die Gletscherspalten, den bis hier hoch rauschenden Wasserfall. Bis gerade eben hat sich der Blick noch begrenzt in dem groben Blockgeröll, in den aufragenden Felsplatten des Mittaghorns, den kleinen Gebirgsseen. Er erhob sich zu den Steinböcken am Grat, die die Wanderer in sicherer Entfernung von oben beobachteten. Oder traf sich mit den Blicken der zotteligen Bergziegen. Jetzt schweift er über die Berge, hinter denen sich die weißen Wolkentürme bauschen, zu den zackigen Linien, die den Horizont ausmachen, zu den klaffenden Rissen im starren, eisigen Strom unter uns. Erhebend.

Die Hütte setzt in dieser Alpenszene Akzente mit ihren knallroten Fensterläden, die die schlichten Steinmauern farbenprächtig schmücken. Nicht nur die Gäste faulenzen bei dem Liegestuhlwetter in der sengenden Sonne. Es bleibt nichts mehr zu tun. Der Körper soll rote Blutkörperchen produzieren, für das Allalinhorn, das morgen unser Ziel ist. Es lässt sich über zwei Routen angehen. Die längere und schönere wird über den Hohlaubgrat beschrieben, den wir von der Terrasse aus sehen. Darin zeichnet sich eine schmale Zick- zackspur im Schnee ab. Blankeis und eine Kletterwand unterhalb des Gipfels sind fu?r uns Abschreckung genug, die Einsteiger-Variante vom Mittelallalin aus zu wählen. Wir wollen morgen diesen Allalin ohne Bergführer besteigen, was uns sozusagen zum Einsteiger macht, auch wenn wir schon auf einigen Viertausender standen, den Montblanc bewältigt haben und sogar schon über sechstausend Meter gekommen sind. Das sind Leistungen, die wir zusammen mit Bergführern erbracht haben. Aber morgen wollen wir die Firnhaube als Zweierseilschaft meistern. Das ist eine aufregende Premiere für uns, die dem Vorhaben eine ganz besondere Bedeutung zukommen lässt.

„Da kommt man sogar mit Lamas hoch“, weiß die Wirtin zu erzählen und schenkt uns dabei vorbeugend schon einmal zwei handliche Sonnenschutz-Cremetuben, Lichtschutzfaktor fünfzig. Sie trägt beim Einchecken sorgfältig ein, was, wer, wo machen will und gibt dabei Auskunft über die aktuellen Verha?ltnisse der Routen. Das dient der eigenen Sicherheit, aber auch der gut organisierten Abläufe auf der Britanniahütte.

Was hier geboten wird, habe ich noch nirgends in meiner gesamten Laufbahn als Hüttengast erlebt. Die Infotafel neben der Theke klärt über die verschiedenen Tourenziele und die dazugehörigen Frühstückszeiten auf. Das ist nicht ungewöhnlich. Es ist sogar üblich, dass es für die Hochgebirgstouren eine empfohlene Startzeit und darauf abgestimmt ein Frühstück gibt. Es ist auch nicht ungewöhnlich, dass dieses Frühstück nachts stattfindet. Das hängt jeweils von der geplanten Tour ab. Je länger und anspruchsvoller, desto früher. Das wiederum liegt darin begründet, dass die Berge, je weiter der Tag voranschreitet, gefährlicher werden. Mit der fortschreitenden Erwärmung tagsüber können Schneebrücken ihre Tragkraft verlieren, die Gewitterneigung steigt, Steinschlag oder Lawinen werden leichter ausgelöst. Also ist es auch auf der Britanniahütte ganz normal, dass es nachts losgeht.

Das ungewöhnliche auf dieser Hütte ist, dass es hier drei Frühstückstermine beziehungsweise wenn man das Frühstück am Morgen einbezieht, sogar viermal Frühstück gibt. Um drei Uhr frühstücken die Strahlhorn- und Rimpfischhorn-Anwärter, die Hohlaubgrat-Geher sind um vier Uhr dran und ab viertel nach fünf die Allalinstürmer, die den Weg über die Metro Alpin nehmen. Deswegen werden die ankommenden Gäste möglichst schon so in die Zimmer verteilt, damit die, die zur selben Zeit aufstehen, zusammen in einem Zimmer liegen. In der Nacht werden die Gäste entsprechend geweckt. Das heißt, das Personal ist nicht nur tagsüber im Einsatz, sondern steht bereits vor drei Uhr auf, um das alles zu organisieren. Dieselbe straffe Ordnung erleben wir beim Abendessen. Auf die Minute genau öffnet die Küche und serviert ein ansprechendes mehrgängiges Menu?. Die Hütte ist trotz der idealen Wetterbedingungen nicht voll. Aber auch am nächsten Abend, an dem die Tische deutlich voller sind, klappt die Abwicklung hervorragend. Ich bin beeindruckt.


Die Abendstimmung ist mir unheimlich geworden. Wolfgang ist mit mir auf den kleinen Hausberg vor der Hütte gestiegen. Die Gletscherriesen sind in dem diffusen Dämmerlicht noch größer geworden, der kalte Wind bläst die Wolken über den Himmel, der Blick in die schwarze Tiefe macht mich schwindelig. Die Geister vom Lagginhorn grüßen fahl herüber. Sie erinnern mich an die Tage dort drüben vor einem Jahr, als sich immer wieder mulmige Gefühle in die euphorischen Gedanken gemischt hatten. Sie rücken unsere Vorhaben in unheiliges Licht, so wie die diffusen Farbtöne am Firmament. Die bitteren Schlagzeilen legen sich wie die dunklen Schatten bedrohlich um die Felsen. Auch die Nachrichten über den Mont Maudit im Montblanc- Massiv, drängen sich auf. Es ist gerade vier Wochen her, als eine Lawine neun Menschen auf der Nordseite des verfluchten Berges - so heißt er übersetzt - in den Tod gerissen hat. Es ist dieselbe Flanke, über die wir letztes Jahr auf den Montblanc gestiegen sind und die schon vier Jahre zuvor für eine Katastrophe gesorgt hatte.

Kurz darauf berichteten die Medien über die Eröffnung der Bergsaison am Matterhorn mit folgender überschrift „das Sterben geht weiter, die Hörnlihütte öffnet ihre Türen“. Wen würde diese Ankündigung kalt lassen? Die Kälte lässt mich erschauern. Ich denke an diejenigen, die mich mit ihren Fragen anlässlich der jüngsten Bergunfälle nachdenklich gestimmt haben. An die vielen Freunde, die uns in Gedanken begleiten, und an die Familie, die uns in Sorge verabschiedet hat. Mein Respekt gegenüber den Bergen ist groß, im Besonderen jetzt. Heute trägt mich nur die Überzeugung, gut vorbereitet zu sein über die Selbstzweifel hinweg. Morgen ist ein neuer Tag, um sie auszuräumen.

© Barbara Esser

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